Facebook Instagramm Vimeo

Der gute Herr Meyer

Ich habe ihn seit unserem Treffen nicht mehr gesehen, nicht mehr gesprochen, kein Email-Kontakt - Funkstille. Joe Meyer ist aus meinem Blickfeld verschwunden, ist abgetaucht und lässt mich mit einer Handvoll Dollarnoten zurück. 

Joe kommt aus Minnesota, er ist, wie die meisten der Protagonisten hier auf den Seiten, Amerikaner mit deutschen Vorfahren, und während der Vorbereitungen für das Projekt haben wir uns über verschiedene Quellen irgendwie kennengelernt. Der Kontakt verlief zunächst ausschließlich per Email, er schrieb stets in gebrochenem Deutsch, ich in gebrochenem Englisch - für Außenstehende vermutlich eine Korrespondenz mit hohem Unterhaltungswert. 

Irgendwann aber standen wir uns dann tatsächlich an der Rezeption meines Hotels gegenüber; ich war gerade in Minnesota angekommen und traf auf einen Mann von zurückhaltender Natur;  höflich, still, einer von der Sorte, die nicht viel Aufhebens um die eigene Person macht. Er trug eine Art Herrenblouson, darunter er ein blaues Hemd, in die Brusttasche steckte ein Kugelschreiber. Er sah aus wie ein Handelsreisender. 

Die Zeit war knapp, ich hatte nur den einen Tag und Joe hatte mir dafür vorab ein Programm zusammen gestellt, das ohne Probleme auch hätte eine Woche füllen können. Er machte mir mit seinem Engagement  etwas Angst, ich sagte es ihm auch; Treffen mit dem Verein hier, mit dem Verein da, eine Stadtführung, ein Interview mit der Lokalpresse; nur: er selbst kam in dem ganzen Ablauf nicht vor. 

Es gibt Menschen, die sind überall präsent, man kommt an ihnen nicht vorbei, mit ihnen ist es wie mit dem Hasen und dem Igel, immer sind sie schon da, die Welt ist ihre Bühne. Und dann gibt es Menschen wie Joe.

Er hätte die Chance nutzen und davon erzählen können, wie es 2008 war, als die Wirtschaftskrise das Land erfasste und er seine Arbeit als Werkzeugmacher verlor. Wie er dann seine eigene kleine Reisegesellschaft gründete, "Germania Tours", ein Ein-Mann-Unternehmen, das amerikanische Touristen nach Europa bringt und das im Gegenzug deutschen Touristen die USA zeigt. Er hätte darüber reden können, wie er, um Geld zu verdienen, Kinder mit dem Schulbus durch die Gegend fährt, wie er versucht, das Leben seiner Familie zu finanzieren. Er hätte Werbung machen können in eigener Sache, stattdessen bot er sich als Fahrer an, er sagte, sein Leben sei uninteressant.

Es war ein ausgesprochen kalter Tag, es regnete, die Zeit zwischen den Terminen verbrachten wir in seinem Truck, die Nacht zuvor hatte ich mir im Motel den Hals verrenkt, und so saßen wir also, er, der Mann, der im Hintergrund bleiben wollte, ich, die Frau, mit steifem Nacken; wir redeten, nein, ich redete zumeist, er schwieg, irgendwann aber landeten wir beim Thema Geld. Ich klagte über die Kosten der Reise, die Finanzierung, die übliche Leier, und er erzählte davon, wie seine Vorfahren einst aus dem Schwarzwald und dem Elsass nach Amerika gekommen waren und wie sie zwei Jahre für das Schiffsticket  hatten arbeiten müssen. Sie waren dann später in Central Illinois gelandet, und als sie in Minnesota die Chance bekamen, eine Farm zu erwerben, zogen sie wieder los. Das Land jedoch, das sie kauften, lag beim Unterzeichnen des Vertrages unter einer dicken Schneedecke.  Als der Frühling kam, schmolz mit dem Eis der Traum, der Boden, den sie sahen, er war unfruchtbar. 

Joe erzählte das alles in ruhigem Ton, dann grübelten wir beide noch etwas unseren Gedanken nach, und zum Schluss erklärten wir uns, vielleicht auch, um uns gegenseitig zu trösten, dass es im Leben andere Dinge gebe als Geld, wie man das eben immer so sagt.  

Man könnte hier jetzt enden; zwei Menschen erzählen sich ihre Geschichte, ein flüchtiges Treffen, eine Bekanntschaft von vielen. Am nächsten Morgen aber, ich war gerade vorm Hotel beim Autobepacken, hielt plötzlich sein Truck neben mir und aus dem Wagen kletterte Joe, der mir in schnellen Sätzen erklärte, wie  leid es ihm täte, dass er meinen Tag so verplant hätte, wie leid es ihm täte, dass er mich nicht zum Abendbrot eingeladen habe. Er sagte: "Ich bin manchmal etwas schwer von Begriff." Dann nuschelte er etwas von Geschenk, drückte er mir einen Bündel Dollarnoten in die Hand und - verschwand. 

Und so sitze ich jetzt also hier mit 100 Dollar, ich würde sie gerne weitergeben, ich möchte mich gerne revanchieren, ich kann das Geld ja schlecht in Pommes umsetzen. 

Einen seiner Briefe beendete Joe mit den Worten: "Ich stehe bereit, wenn Sie wollen, Ihnen zu helfen."