Gehen oder bleiben, heute oder morgen? - das Leben besteht aus Entscheidungen. Jeden Tag bin ich aufs Neue hin- und hergerissen, das Abfahren fällt immer schwer, schon wieder Koffer packen, schon wieder weiter, selten bleibt Zeit für mehr als eine Nacht, jeder Abschied eine kleine große Wehmut, am Ende aber stellt sich meist raus: Es war gut so, weiter zu fahren, weiter zu gucken, zur Belohnung gibt es neue Eindrücke, neue Bekanntschaften, neue Geschichten; ich bin ein Geschichtensammler, eine Frau Grimm.
"Das Leben wird nach vorn gelebt und nach hinten verstanden“, gibt mir jemand mit auf den Weg, und so versuche ich, die Tage von hinten zu denken. „Wer keine Zukunft hat, lebt in der Vergangenheit.“ Auch ein schöner Satz, ein Souvenir aus Wisconsin, zum Gespräch gibt es Käse, Leberwurst und Schwarzbrot, was für eine schöne Geste; dass ich Vegetarier bin, verschweige ich.
Wisconsin ist das Land, in dem die Städte so wundervolle Namen wie Oshkosh, Keshna oder Wautoma tragen, und wenn jemand behauptet, die habe man sich hier mangels landschaftlicher Besonderheiten ausgedacht, wird man dem Ganzen nicht gerecht. Und außerdem hat das mit der Historie zu tun, and by the way: Den letzten Indianer hat man hier 1835 vertrieben.
Es sind hauptsächlich Farmer und Milchbauern, die in Wisconsin wohnen, sie ernähren das Land, sie liefern die Milch für den ganzen Staat; und weil Farmer und Milchbauern hautsächlich Böden bestellen, kann man sich hier ausführlich in Studien über Brauntöne ergehen: Dunkelbraun, Hellbraun, Sandbraun, Septemberbraun, Abschiedsbraun; verblassende Felder, abgeerntete Felder, und auf einem hat ein Bauer einen Strunk Mais hinterlassen - ein letzte Gruß, was vom Sommer übrig bleibt. Der Herbst macht traurig,
"Das Leben wird nach vorn gelebt
und nach hinten verstanden“
Wenn der Mittlere Westen als der Landstrich gilt, in dem die Deutschen die meisten sichtbaren Spuren hinterlassen haben, dann gilt das für Wisconsin besonders - und für Milwaukee, die größte Stadt im Bundesstaat, erst recht. Es sei die deutscheste Stadt der Städte in den USA, heißt es, und zurückgeführt wird es auf die große Anzahl an Amerikanern mit deutschen Vorfahren; im Jahr 1890 lag der Anteil der deutschen Bevölkerung bei 69 Prozent - und man kann sich in etwa ausrechnen, was das für die Nachfahren bedeutet. Und natürlich haben die Deutschen auch ihre Traditionen mitgebracht. Und weil Deutschsein immer auch Biertrinken bedeutet, vor dem Trinken aber erst noch das Brauen kommt, könnte man, wenn man wollte, die Spur der Siedler auch anhand der Brauereien nachverfolgen - das vielleicht als Idee für das nächste Projekt.
Die Erfahrung zeigt, besonders schön werden die Tage dann, schlägt man die präzise ausgearbeitenden Pläne in den Wind, dann ist Raum für neue Dinge, unerwartete Begegnungen, und sie sind es zumeist auch, die die wärmsten Erinnerungen hinterlassen. Und so lenke ich den Wagen einem Gefühl folgend nach Victory, eine Kleinstadt im Westen Wisconsins; weit ab von dem Weg, den ich eigentlich nehmen wollte; es ist die Stelle, an der sich an einer Biegung des Mississippis die Staaten Iowa, Minnesota und Wisconsin treffen. An diesem Tag nun beugt sich ein verhangener Himmel über das Flussbett, das sich weit ins Land schiebt und eine berauschende Landschaft hinterlässt. Wohl dem, der eine solche Heimat hat.
Die Deutschen brachten also ihre Traditionen mit; und ein gutes Beispiel dafür ist: der erste amerikanische Kindergarten - ins Leben gerufen von Margarethe Schurz, eine junge Hamburgerin, die zusammen mit ihrem Mann, dem späteren Innenminister Carl Schurz, 1852 nach Amerika ging; zunächst nach Philadelphia, dann Watertown, Wisconsin.
Während ihr Gatte also politisch Karriere machte, betreute sie zunächst nur ihre eigene Tochter und Nichten und Neffen, sie brachte ihnen Lieder und Spiele bei, schließlich aber fand das Projekt so viele Anhänger, dass sie mit der ständig wachsenden Kinderschar in eine größere Schule umziehen musste.
Man kann das alles in Watertown nachlesen, das Häuschen, das den ersten Kindergarten beherbergte, ist heute ein Museum; und Rede und Antwort steht dort Linda Werth, seit 20 Jahren arbeitet sie für die Historical Society, sie selbst hat drei Kinder groß gezogen, und von ihr nun erfährt man auch, dass es heute in den USA Pflicht ist, die Kinder ab fünf Jahren in den Kindergarten zu bringen - das gilt als eine Art Vorschule.
Margarethe Schurz hat dagegen der Wechsel auf den fernen Kontinent kein Glück gebracht; sie starb wenige Tage nach der Geburt ihres Sohnes Herbert, das war sie 43 Jahre alt, und Linda Werth, die Museumsfrau, ist überzeugt: Die Deutsche ging an gebrochenem Herzen zugrunde; sie habe ihr Heimweh nie verwunden können, und so kehrte Margarethe Schurz erst mit dem Tod in ihr geliebtes Hamburg zurück.
Ein schönes Beispiel dafür, wie deutsche Auswanderer Amerika prägten, ist die Kleinstadt New Holstein in Wisconsin; gegründet von einer Gruppe aus 70 Schleswig-Holsteinern, die, enttäuscht und desillusioniert von der politischen Situation, im Jahr 1848 selbst ihr Schicksal in die Hand nahmen. In Hamburg gingen sie an Bord der "Brarens"; Wochen, Monate später machten sie sich daran, den Landstrich nahe des Lake Winnebago zu erobern. Auch der Amerikaner Terry Thissen ist deutscher Herkunft; seine Vorfahren stammen aus Kiel an der Ostsee, und es ist natürlich kein Zufall, dass es wenige Kilometer entfernt von New Holstein auch ein Kiel gibt - die Welt ist klein, und erbaut wurde sie von Menschen, die ihren Träumen hinterher reisten. Terry Thiessen jedenfalls ist dankbar, im Jetzt und vor allem hier in New Holstein zu leben - und fragt man ihn, was er mit der Geschichte verbindet, sagt er: "Die Deutschen haben das hier aufgebaut, und ich denke, wir bewahren ihr Erbe auf gute Weise."
Das Grab seines Ur-Vaters gibt es noch: "Ludwig Zamzow, geboren 1. Juli 1824, gestorben 20. April 1907." Der Stein ist mit einem "Z" versehen, Z für Zamzow, eine Art Familiensymbol.
Don Zamzow hat den Namen seiner Familie stets mit großer Verantwortung getragen, die Verantwortung, die Dinge sich nicht selbst zu überlassen, dafür Sorge zu tragen, dass das erhalten bleibt, was die Generation seines Ur-Großvaters, seines Großvaters, seines Vaters aufgebaut hat. "Geschichte", sagt er, "ist wichtig."
Don Zamzow ist auf einer Farm in Berlin, Wisconsin, aufgewachsen. Er ist Amerikaner, er fühlt sich als Amerikaner, Amerikaner mit deutschen Wurzeln. Die Vorfahren seiner Mutter und seines Vaters stammen beide aus Posen (also Pommern, heute Polen), sie emigrierten 1856 und ließen sich nach verschiedenen Umzügen etwa zehn Jahre später im so genannten Marathon County nieder. In seiner Erinnerung spielte die deutsche Geschichte in der Familie, in der Region immer ein große Rolle, sagt Don - zumindest bis etwa Mitte der 1950er Jahre. Man sprach Platt, man besuchte den deutschen Gottesdienst, und wenn Don etwa zu Hause englisch sprechen wollte, fiel ihm sein Großvater ins Wort und erklärte ihm: "Ik kan di niet höre." Und was ruppig klingt, war so nicht gemeint; mit dem Großvater verbindet Don viele schöne, viele wichtige Momente; er brachte ihm auf der Farm das Autofahren bei - und von ihm auch lernte er etwa, seinen Namen auf Altdeutsch zu schreiben. (Mehr in den Ton-Mitschnitten).
Don ist heute 82 Jahre alt, früher arbeitete er in der Computerbranche, und während andere in seinem Alter sich längst dem verdienten Müßiggang widmen, stieg er gemeinsam mit seinem Sohn vor zehn Jahren ins Biergeschäft ein; die beiden gründeten erfolgreich die Bull Falls Brewery - "Craft Brewed Ales & German Lager". Und dennoch: Sein großes Lebensthema bleibt die Familiengeschichte; unzählige Male ist er in Deutschland gewesen, besuchte Polen, besuchte die Orte seiner Vorfahren, und wenn man ihn fragt, was das für ein Gefühl ist, die Plätze seiner Ur-Großeltern zu besuchen, spürt man, wie wichtig ihm das alles ist. In seinem Heimatort Berlin hat heute der Pommersche Zentral-Verein von Wisconsin seinen Sitz, innen sind die Geschichten all derer gesammelt, die sich einst aus dem fernen Pommern hier im Mittleren Westen niederließen. Außen haben Don und seine Mitstreiter ihnen zu Ehren ein Erinnerungsstein aufgestellt, und dass er sich ausgerechnet in unmittelbarer Nähe zum Grab seines Ur-Großvaters befindet, dürfte ihn mit einiger Genugtuung erfüllen.
Und noch eine Hamburgerin machte sich auf den Weg nach Wisconsin - 106 Jahre nach Margarethe Schurz, im Unterschied zu ihr allerdings fand Ingrid Goeschko ihr großes Glück.
Es waren die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg; mit den Bomben über der Stadt, der Trauer, den Verlusten, hatten die Menschen ihren Glauben an eine Zukunft verloren, und so machte sich wieder eine Welle auf gen Westen und mit sich trug sie die damals 23-Jährige.
Ingrid lebt heute in Waukesha nahe Milwaukee in einem klassischen amerikanischen Haus in einer klassisch amerikanischen Straße mit sehr gepflegtem Rasen und breiter Auffahrt zur Garage.
Kommenden März wird sie 60 Jahre in den USA sein; sie sagt, dass sie hier glücklich ist. Und auch wenn sie die meisten Jahre ihres Lebens auf der anderen Seite des Atlantiks verbrachte, ihr Leben ist dennoch so deutsch wie es deutsch im Ausland nur sein kann; mit deutschen Freunden, Besuchen in deutschen Vereinen, deutschem Essen, deutschen Traditionen. "Die Deutschen sind ja clubsüchtig", sagte sie. Und natürlich spricht sie deutsch, wie auch ihr Sohn, ihre Tochter.
Sie war damals ihrer Schwester nach Amerika gefolgt, und als sie ihren inzwischen verstorbenen Mann kennenlernte, kam eine Rückreise nicht mehr in Frage. Sie sagt: "Es gab nie den Wunsch, zurückzukehren. Das Deutschland, das ich verlassen habe, ist ja nicht mehr da."
88 Jahre ist sie jetzt alt, wer sie aber zum Gespräch trifft, sieht sich einer Frau gegenüber, die sich ihr mädchenhaftes Temperament bewahrt hat, die aber auch viele nachdenkliche Sätze sagt wie: "Im Alter rückt man wieder zusammen, weil das Leben zu Ende geht."
In ihrer Wohnung steht noch immer der Schrank, den sie sich 1954 in Hamburg gekauft hatte - und über der Küche hängt ein Teller mit der Aufschrift: "Hamburg - Tor zur Welt". Ingrids Kommentar: "Je älter man wird, desto mehr lebt man mit der Vergangenheit; wir haben ja keine Zukunft mehr."
Ingrids Geschichte ist keine Siedler-Geschichte - und deswegen dürfte sie hier auch nicht stehen; aber sie beginnt wie viele Auswanderergeschichten begonnen haben: Mit einer Idee, mit einer stillen Hoffnung, mit dem Willen, das eigene Leben in die Hand zu nehmen.
"Es gab nie den Wunsch, zurückzukehren. Das Deutschland, das ich verlassen habe,
ist ja nicht mehr da."