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Ankommen

Die Tage kommen, sie gehen, sie sind, was sie sind; allmählich verliere ich das Gefühl für die Zeit. Die Nachrichten sind fern, angenehme Unaufgeregtheit bestimmt stattdessen den Rhythmus, die einzige Unterbrechung sind die Nächte, dazwischen Gespräche und lange Autofahrten. Mit Glück findet sich ein guter starker Kaffee, und wenn die Siedler auch sonst viele Dinge mit nach Amerika brachten, das Wichtigste  scheinen sie vergessen zu haben, der amerikanische Kaffee wird auch nach dem soundsovielten Mal nicht besser. Ansonsten: Viel Herzlichkeit, viel Gastfreundschaft, und immer wieder Fragen: Wo kommst du her? Wo gehst du hin? Und was auffällt: Niemand klagt über Deutschland. Die Sympathien sind mir gewiss, und beinahe jeder versucht sich in ein paar Brocken Deutsch.

Nach Pennsylvania nun also Ohio, die Straßen gleichen sich; wieder Hügel, wieder Kurven, auf den Feldern wachsen Mais und Soja-Bohnen; es ist ein fruchtbares Land, fern von allen Umweltkatastrophen. Und auch wenn der Sommer die Temperaturen bestimmt,  das Ende seiner Kraft ist zu spüren, die Farbe der Äcker verändert sich langsam, grün wird gelb, wird rot, und bald wird auch davon nichts mehr zu sehen sein. So schade. 

Bald vier Wochen USA, alles fühlt sich vertraut an. Die Straßen, die Schilder, how are you doing, alles bestens, das Hotelproblem bleibt, aber gut, man kann nicht alles haben. Ich fühle mich wohl, ich bin angekommen.

Kirche. Ehe. Familie.

Wenn Pennsylvania der geschichtsträchtigste Staat aller Staaten in den USA ist, dann setzt Ohio mit der weltweit größten Amish-Community dagegen. Ihre Buggies, also ihre schwarzen Kutschen, gehören zum gewohnten Straßenbild, man sieht die Gespanne vor dem Supermarkt, vor der Schule, nahe dem Feld, und niemand scheint das ungewöhnlich zu finden. Und so wie mir die Zeit abhanden gekommen zu sein scheint, leben die Amish in ihrer eigenen Welt, und das Schönste ist, ich werde für ein paar Nächte zum gemeinsamen Wohnen eingeladen, mehr dazu unten. Als Außenstehender mag man das eine oder andere  ja womöglich etwas seltsam finden; die Herzlichkeit aber, mit der sie ihrer eigenen Familie begegnen, mit der sie ihre Kinder aufziehen, wie sie sich in Zusammenhalt üben, das überrascht.  Wayne H. Wengerd, mein Gastvater und zugleich ein äußerst erfolgreicher Geschäftsmann aus Dalton, erklärte es mir so: Zuerst kommt Gott. Dann die Ehe, die Familie, die Kinder. Dann kommt das Geschäft. Für alles andere ist kein Platz. Auch für Politik nicht. Amish gehen etwa nicht wählen. Und da ihnen zwar erlaubt ist, Geld zu verdienen, Eitelkeit jedoch als Todsünde gilt, sind auch Fotos nicht gern gesehen. Der Besuch bleibt also weitgehend undokumentiert, sehr bedauerlich. 

Zeitreise

Als Amish leben bedeutet also, sich der Moderne zu verschließen. Und es bedeutet, sein Leben in den Dienst Gottes zu stellen und sich dem Wohl der Familie zu widmen - ein offenbar sehr erfolgreiches Modell.  Allein im Holmes County im Osten Ohios leben 35 000 Amish People - und 330 000 bis 350 000 sind es in ganz Nordamerika; es ist die weltweit größte Community, sie wächst stetig, alle 21 Jahre verdoppeln sich die Mitgliederzahlen. In erster Linie liegen die Zuwächse natürlich an der traditionell sehr hohen Kinder-Zahl in einer Amish-Familie. Zehn Kinder sind keine Seltenheit. Meine Gasteltern etwa haben 12 Kinder und 35 Enkel, und die Familie wächst stetig. 

Wer nun die Nacht bei einer Amish-Familie verbringt, erhält einen Einblick in eine Welt, die weit von dem entfernt ist, was im modernen Westen als Standard gilt. Es gibt streng gläubige Amish, die komplett und ohne jeglichen Komfort ihren Alltag bestehen, ohne Heizung, ohne Strom, ohne fließend Wasser; die Räder ihrer Landmaschinen fahren auf dem Eisen, ihre Buggies sind ungefedert, Bequemlichkeit ist verpönt. Die Wengerd's, meine Gasteltern dagegen, zählen zur eher moderaten Gemeinschaft, sie leben auf einer großen Ranch nur wenige Kilometer von Berlin, Ohio, entfernt, und sie haben einen Sinn fürs Praktische. Zwar gibt es auch in ihrem Haus  keinen Strom, kein Internet, kein Telefon, ihr Licht aber bekommen sie aus batteriebetriebenen Lampen - oder Gas-Lampen, auch der Kühlschrank wird mit Gas betrieben, ebenso die Heizung.

Wayne führt zusammen mit seiner Frau und seinen Söhnen den äußerst erfolgreichen Landwirtschaftsbetrieb "Pioneer", 50 Leute sind dort inzwischen beschäftigt (die meisten Amish), das Unternehmen beliefert die gesamte USA, die Maschinen gehen nach Australien und nach Europa. Da eine Firma dieser Größenordnung allerdings nur schwer ohne  Telefon oder Computer zu führen ist, verlegen sich die Wengerd's auf einen Kompromiss. Im Unternehmen gibt es Telefon, und ein Mittelsmann besorgt das Online-Geschäft. Und auf dem Firmengelände fahren auch Autos, wobei die Wengerd's selbst nur mit Buggies unterwegs sind, für längere Fahrten nutzen sie ein Taxi.

Wie alle Amish-Kinder besuchen auch die Kinder der Wengerd's eine Amish-Schule; die Jüngsten und die Großen teilen sich dort einen Klassenraum; unterrichtet werden sie von zwei Lehrerinnen, bei Bedarf teilt ein Vorhang den Raum. Die Kinder lernen nach eigenem Lehrplan; an erster Stelle stehen Lesen, Schreiben, Rechnen, die Evolution kommt praktisch nicht vor; und wenn die Jungs und Mädchen in der Schule auch Englisch sprechen, Pennsylvania-Dutch, dieses wundersame Deutsch, ist bei den Amish Alltagssprache.

Da Eitelkeit als Sünde gilt, tragen alle Jungen und Mädchen ähnlich schlichte Kleidung, und häufig, weil sie Freude daran haben, auch in der Schule keine Schuhe. Finanzielle Gründe jedenfalls sind es nicht, dass viele Kinder barfuss laufen, die meisten Amish verdienen sehr gutes Geld.

Werden Amish-Kinder erwachsen, dürfen sie zwei oder drei Jahre ihr Leben nach eigener Vorstellung gestalten, ohne Regeln, ohne Vorhaltungen. Danach allerdings müssen sie sich entscheiden. Wer sich danach nicht taufen lässt, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.

Das Leben der Amish gleicht einem Leben im goldenen Käfig, sagen die, die ihm entflohen sind, andere, wie die Wengerd's etwa, sind überzeugt, dass das Leben als Amish die einzig akzeptable Alternative ist. 

Wie diese Badezimmer-Lampe gibt es viele im Haus der gemäßigten Amish-People. Sie wird mit Gas betrieben, sie macht sehr helles Licht, und ist zugleich eine gute Wärmequelle.

Auf den Spuren der Amish

Der Geschichten-Erzähler

Die Geschichte der Siedler ist alt, ihr Spuren aber sind immer noch da, und in beinahe jedem Ort sind sie  zu finden. Die Deutschen haben Kirchen hinterlassen, sie haben Fußgängerwege gebaut und klangvolle Namen wie New Bremen oder Berlin vergeben, und beinahe ist es egal, wen man auf der Straße nach den Vorfahren fragt, alle sind sie irgendwie mit der deutschen Geschichte verbunden, man kann Deutschland nicht entgehen, beinahe ist es, als habe es sich in dieses Land eingebrannt. Das Städtchen Minster etwa, unweit von Houston (Ohio) und Sidney (Ohio) gelegen, begrüßt seine Gäste mit Deutschland-Fahne, und im neuen Museums-Trakt gibt es eine Ausstellung, die sich speziell Deutschland und den Einwanderern widmet. Wer mag, kann die Karteikarten und Sterbeurkunden nach eigenen Vorfahren durchsuchen, und man lernt, dass 1848 etwa 250 Einheimische an der Cholera starben, die meisten waren Deutsche. 

Myron Fledderjohann ist jemand, der die Geschichte zu seinem Lebensthema gemacht hat. Zusammen mit seiner Frau lebt er in New Knoxville, es ist der selbe Ort, in dem Neil Alden Armstrong seine Wurzeln hat. Selbstverständlich ist der örtliche Flughafen nach dem Astronauten benannt. Früher war Myron Farmer, heute kümmert sich der 83-Jährige mit anderen Freiwilligen um das örtliche Museum, er ist der Präsident der New Knoxville Historical Society, und dass Menschen aus dem fernen Deutschland das Gespräch mit ihm suchen, liegt unter anderem auch daran, dass er vielleicht kein Deutsch sprechen oder verstehen kann, dafür allerdings ist er Experte für Plattdeutsch. Er hat es von seinen Eltern gelernt, die Eltern von den Großeltern, die Großeltern von den Urgroßeltern und immer so weiter. 

New Knoxville ist, das sollte man vielleicht wissen, altes Siedlerland; Menschen aus dem Münsterland ließen sich hier in den letzten Jahrhunderten und Jahrzehnten nieder, es war zu einer regelrechten Kettenwanderung gekommen, Myrons Vorfahren etwa stammen aus Ladbergen, und mitgebracht haben sie ihre Sprache. Trilingual, sagt Myron, sei er aufgewachsen. In der Schule wurde englisch gesprochen, am Sonntag in der Kirche High German, und Low German war die Evrey-Day-Sprache. "Meine Eltern haben immer Plattdeutsch gesprochen", sagt Myron, und er glaubt zu wissen, dass es immer noch 50 Leute in der näheren Umgebung gibt, die es ebenfalls noch können; Myron Frau und seine fünf Kinder gehören allerdings nicht dazu. Myron übrigens ist ein ganz großartiger Geschichtenerzähler - und er ist ein ausgesprochen herzlicher Mann. Das sei, sagt er, seine deutsche Seite. 

Myrons Plattdeutsch

  • Dat is so seute at Hoggin - Das ist so süß wie Honig.

  • Dat is so hart at'n Stein - Das ist so hart wie Stein. 

  • Dat is so weik at Wull - Das ist so weich wie Wolle.

  • Dat is so schrap at'n Mest - Das ist so scharf wie ein Messer.

Der Sänger

An John Schmid kommt in Ohio niemand vorbei. Schmid ist Sänger, die Amish und Mennoniten lieben ihn für seine Musik, mit seinen Melodien berührt er ihre Herzen. Er singt von ihren Freiheiten und Zwängen, von der großen Liebe und den kleinen Fluchten, und er schafft es, dass sich die Menschen in seinen Liedern aufgehoben fühlen. Schmid ist, wie der Nachname vermuten lässt, Kind deutscher Auswanderer, er vertritt die 5. Generation. Er selbst ist Mennonite, und das wunderbare an seiner Geschichte ist, dass sie ihren Ursprung tatsächlich bei Adam und Eva hat; Adam Schmid, 1829 in Königsbach, Karlsruhe, geboren, traf in späteren Jahren auf Eva Maria Streng, geboren 1824 in Wuertemberg - und zusammen begründeten sie die neue Schmid-Generation in Amerika. 

Zusammen mit seiner Frau wohnt John in einem wunderbaren Haus nahe der kleinen Stadt Millersburg, und wenn ihn etwas neben seiner Musik und seiner Familie am meisten beschäftigt, ist es seine eigene Geschichte. Wissen, woher man kommt, wissen, was die Geschichte mit einem macht, das sind so die Dinge, die ihn umtreiben. Warum? "Ich weiß es nicht", sagt er. Er erinnere sich aber gut an das Gefühl, wie er das erste Mal am Grab seines Ur-Ur-Großvaters stand und plötzlich spürte: "I am somebody. I came from somethere. I belong."

In seinem Wohnzimmer hängt sein "Family Tree" an der Wand, in seinem Büro stapeln sich tatsächlich die Dokumente. Seine Tourneen bringen ihn immer wieder auch nach Deutschland, und sobald er die Gelegenheit hat, ist er auf den Wegen seiner Vorfahren unterwegs. Und das ist wohl auch der Grund, warum er für seinen Lebensunterhalt etwas fand, das all die Dinge, die ihm wichtig sind, bündelt. Predigen. Singen. Pennsylvania Dutch. Sein aktuelles Album heißt deswegen auch wie es in seinem Fall nur heißen kann: "Home".  

Die Journalistin

Der junge Mann wurde nur 35 Jahre alt, er war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und Fannie Erb-Miller hatte die Aufgabe, dem Vater ihr Beileid auszusprechen. Es ist eine dieser traurigen Geschichten, die die Journalistin immer wieder begleitet, im Laufe ihrer Karriere erlebte die knapp 50-Jährige viele ähnliche Dinge. Seit knapp drei Jahrzehnten arbeitet sie nun als National Editor bei "The Budget", und wenn die Zeitungsbranche weltweit in so etwas wie Schockstarre verfallen ist, das Blättchen aus Sugarcreek in Ohio trotzt den Umständen, die Redaktion ist die Insel der Glückseligen, sie ist das Paradies, von dem Verleger träumen.

"The Budget" ist eine Zeitung für die Amish-People, daneben gibt es noch noch "Die Botschaft", aber gemessen am Erfolg kann ihr niemand das Wasser reichen. Die Auflage beträgt 18 000 Stück, das klingt erstmal nicht viel, da Amish-Familien jedoch ausgesprochen weit verzweigt sind, ist die Reichweite kaum zu ermessen, sie Zeitung wird überall in den USA gelesen. Das Konzept ist dabei ziemlich schlicht; es gibt einen überschaubaren Lokalteil mit den üblichen Geschichten von Geburten und Feuerwehrfesten; Hauptbestandteil aber sind die Leserbriefe, sie sind das Fundament der Zeitung. Da Amish weder Fernseher und Radio nutzen, ist "The Budget" quasi ihr Kontakt zur Außenwelt. Familien verkünden die neuesten Entwicklungen, sie schreiben über Unglücks- und Glücksfälle, von Festen wird ebenso berichtet wie von Schulleistungen der Kinder.  Und während andere Tageszeitungen mit den Auflagenverlusten kämpfen, ist "The Budget" die einzige, die sich ihrer Zukunft sicher ist. Fannie Erb-Miller hat sich den richtigen Arbeitgeber gesucht. 

Tipps

  • Wer eine Reise nach Ohio plant, sollte erstens wissen, dass Columbus die Hauptstadt ist und nicht Cincinnati. Zweitens: Es gibt viel flaches Land, dadurch unterscheidet es sich kaum von Indiana, dazu beim nächsten Mal mehr. Außerdem ist Ohio die Geburtsstätte von sieben Präsidenten.

  • Deutsche Siedlergeschichte findet sich in Ohio eigentlich überall, and by the way: Der Auswanderer August Irmgard aus Wetzlar soll den ersten Weihnachtsbaum in seinem Haus in Wooster, Ohio, errichtet haben.  

  • Mehr Informationen über das Museum in New Knoxville, in dem Myron aktiv ist:  
     http://www.nktelco.net/historicalsociety/membership.htm

  • Die Partnergemeinde Minster ist so zu erreichen: 
    https://www.minsterhistoricalsociety.com

  • Einen guten Überblick über die Geschichte der Amish und alles über ihre Kultur gibt es im "The Amish & Mennonite Heritage Center" In Berlin, Ohio. Wer mag, kann an einer Tour teilnehmen. 
    Adresse: 5798 CR 77 Millersburg, OH 44654






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