Facebook Instagramm Vimeo

Same, same but different

Ich kann mich kaum noch erinnern; Pennsylvania, Ohio, Indiana, Illinois, die Tage, die Begegnungen,  alles zerfließt, geht ineinander über, alles wird eins, zurück bleibt ein wohliges Gefühl, als habe man ein großes Geschenk erhalten. Und je mehr die Zeit voranschreitet, desto mehr Nervosität breitet sich aus; zu behaupten, die Zeit würde keine Rolle spielen, ist gelogen. Ich zähle die Wochen, die noch verbleiben, die Tage, freue mich über jeden, den ich unterwegs sein darf, es ist noch längst nicht die richtige Zeit, nach Hause zurück zu kehren. Auf den Feldern ernten sie derweil den Mais, Gänse fliegen Formationen, den Herbst immerhin habe ich noch. 

Und um so viel wie möglich auf meiner Reise zu sehen, folge ich den kleinen Straßen; wie ein Hase schlage mich durchs Feld, will nichts auslassen, habe Angst, etwas  zu verpassen. Vier Stunden brauche ich für 200 Kilometer, manchmal geht es schneller, manchmal dauert es länger.

Nach Indiana lenke ich den Wagen auf Verdacht in den Süden von Illinois, später ziehe ich eine Diagonale vom Westen in den Osten, machen einen Bogen um Chicago, von dort geht's wieder zurück in den Westen, dann wieder in den Norden. Menschen sind auf den Straßen, sind in den Dörfern kaum zu sehen, und sehne ich mich nach Gesellschaft, halte ich einer Tankstelle, irgend jemand ist immer für einen Smalltalk zu haben oder ich mache Rast in einem dieser wunderbaren Diner; ich mag die Kellnerinnen dort, sie nennen mich Sweetie oder Honey. 

In Indiana riet man mir, fahr nicht Illinois, da ist platt und langweilig. In Ohio sagte man mir, geh bloß nicht nach Indiana, da ist es fad und flach. Und in Pennsylvania klang es ähnlich: „Du willst nach Ohio? Vergiss es.“ Aber was soll ich sagen? Niemand hatte recht.

„Bread Basquet“ nennen sie den Mittleren Westen zwar, weil hier all das angebaut wird, was das ganze Land und Russland gleich mit ernährt; Felder also bis zum Horizont, und stellt man sich hier auf die Zehnspitzen, lässt sich leicht der ganze Staat überblicken. Man kann das für einseitig halten, genauso gut aber kann man sich in die Weite reingucken, und wenn man genug davon hat, fährt man weiter, immer weiter, und plötzlich steht man am Ufer des Mississippi und ist ganz ergriffen. Auch das nämlich ist Illinois.

 

Illinois

Illinois wird "The Land of Lincoln" genannt; und erinnert wird man daran täglich, immer dann nämlich, wenn man auf das Nummernschild der Autofahrer vor einem blickt, dort kann man es nachlesen. Abraham Lincoln hat, das lernt man dann hier, von 1837 bis 1861 in Illinois als Anwalt gearbeitet, auch Ronald Reagan stammt aus Illinois, und Barack Obamas politische Karriere begann hier; insofern: Alle guten Dinge sind drei, und auch landschaftlich ist der Staat dreigeteilt; leicht bergig im Süden, in der Mitte wartet die Prärie, von Seen durchsetzt ist der Norden. Illinois ist neben Mais und Soja-Bohnen auch für Schlagzeilen gut, und manchmal sind sie traurig: Am 4. April 1918 etwa, als in Collinsville der Deutsch-Amerikaner Robert Prager (geboren in den Dresden) ermordet wurde; er war Opfer des Deutschlandhasses geworden, der sich nach dem ersten Weltkrieg in Amerika seinen Bann brach; Historiker sprechen heute von einer Zeit der Verfolgung. Die deutsche Sprache wurde damals verboten, ehemals deutsche Straßen wurden umbenannt, und vereinzelt kam es zu Folterungen und Lynchjustiz. Robert Prager nun war eines der prominenten Opfer, vor seinem Tod ließ man ihn einen letzten Brief schreiben, darin ließ er seine Eltern wissen: "Dear Parents I must on this, the 4th day of April, 1918, die. Please pray for me, my dear parents."

Das Erbe der Donauschwaben

John Katzenmayer aus Illinois hat sich bewahrt, was vielen im Laufe des Lebens verloren geht; der Spaß am Spiel nämlich, die beinahe kindliche Freude daran. Und so dürfte sein Haus in McHenry in der Nähe von Chicago nicht nur einer der schönsten Plätze am Rand der Chain 'O Lakes sein; vor allem ist es eine große Spielwiese mit einer Bar im Keller, in der eine Eisenbahn unter der Zimmerdecke fährt. Und während John es also versteht, die Tage von der leichten Seite zu nehmen, ist die Geschichte seiner Familie durchsetzt von Mühsal und Leid, fast scheint es, als setze er bewusst einen Kontrast.

Um die Dinge zu verstehen, muss man einen Schritt zurücktreten aus dem Jetzt und auf das blicken, was man den Lauf der Geschichte nennt; und von dort nun schaut man auf die Jahre 1717 bis 1780, auf die Zeit also, in der Kaiserin Maria Theresa aus dem Hause Habsburg mit der Besiedlung Osteuropas begann.

Auch die Vorfahren von Johns Eltern stammten ursprünglich aus Deutschland, aus Schwaben, später aber siedelten sie in das Gebiet des heutigen Kroatiens, und weil viele dieser Umsiedler die Donau stromabwärts fuhren, nannte man sie von nun an Donauschwaben.

John Vater wird 1929 in der Gemeinde Gorjani geboren, seine Mutter wächst nur wenige Kilometer entfernt von dort auf, bis die beiden sich allerdings kennen lernen, müssen noch einige Jahre vergehen, erst kommt das 1944, der Zweite Weltkrieg geht seinem fürchterlichen Höhepunkt entgegen, und weil die Donauschwaben mit dem nahenden Ende des deutschen Reichs und dem Einzug der Partisanen nun um ihr Leben fürchten müssen, beginnt für sie eine Flucht, die Johns Vater von Kroatien nach Wien bringt, von dort weiter nach Ingolstadt in Deutschland, dann wieder zurück nach Österreich; 27 Tage ist er unterwegs. Die Familie seiner künftigen Frau nimmt einen ähnlichen Weg; am Ende führt er die beiden irgendwie zusammen; sie, damals keine 20 Jahre alt, er 22 Jahre, sie verlieben sich, sie heiraten, über Jahre leben sie in einem Flüchtlingslager. Und weil Europa aber der Familie keine Zukunft verspricht, vertrieben, verhasst, verfremdet, packen sie ein weiteres Mal ihre Koffer und am 29. April 1955 reisen sie aus Richtung Amerika.

Sie hatten kein leichtes Leben, sagt John über seine Eltern, es sei ein Leben auf der Flucht gewesen; heimatlos in der alten Heimat, heimatlos in der neuen Heimat; die Erinnerung daran ist bis heute da.  

Zufallsbekanntschaft im Süden

Maeystown

Die Reise nach Maeystown war nicht geplant; der kleine Ort im Süden von Illinois an der Grenze zu Missouri ist eine Zufallsbekanntschaft, und wie es häufig so ist mit solchen Begegnungen; meist enden sie in einer großen Zuneigung.

Zwei Blocks, 121 Einwohner, alle Katzen und Hunde mit eingerechnet; es gibt einen kleinen Gebrauchswarenladen, ein Cafe, ein Museum, es gibt eine Kirche, erbaut in den Jahren 1866 bis 1867, am Wochenende wird im General Store Eis verkauft, und im Schatten eines kleinen Baches ducken sich die Häuser. Das Leben also steht hier still, und so bleibt etwas Zeit, kurz von den ersten Tagen des Ortes zu erzählen, aus der Zeit nämlich, als die ersten Deutschen in die Region kamen, und was sie hier vorfanden, erinnerte sie an ihre Heimat, die Pfalz. Also machten sie sich an die Arbeit, das Jahr 1860 wurde geschrieben; sie bauten Häuser, sie bauten die Kirche, sie führten ihre Geschäfte, und bis heute heißt der Ort Maeystown - Erinnerung an den Mann, der als erster hier in der Gegend die Grundstücke übernahm, sein Name: Jacob Maeys, geboren 1828 in der Pfalz in - Überraschung - Oggersheim, dem guten alten Kanzlerort.

In Maeystown heißt es bis heute; würde ganz Illinois so wirtschaften wie die kleine Gemeinde; dann würde es allen gut gehen. Keine Schulden, kein Hass, zufriedene Menschen, Maeystown - Insel der Glückseligkeit.

Tipp

  • Wer Maeystwon einen Besuch abstatten will, kommt am besten unter der Woche - da ist man quasi allein, am Wochenende teilt man sich den Ort mit Touristen. Wer mehr über das kleine deutsche Dorf wissen will, alle wichtigen Informationen und Adressen einschließlich des Veranstaltungskalenders hier:
    http://www.maeystown.com

Die Einwohner

Der Herbergsvater. David Braswell ist eine Multitalent. Kauft Häuser, renoviert sie, unterrichtet Musik, unterrichtet Sprachen, er sitzt in diesem Ausschuss, sitzt in jenem, und immer noch findet der ehemalige Deutschlehrer Zeit, eines der schönsten Häuser im Ort als Bed- und Breakfast zu führen, das Corner George Inn nämlich. David hat, wie kann es anders sein, deutsche Vorfahren. Zusammen mit seiner Frau kam er  1988 nach Maeystown, zusammen bauten sie das ehemalige Hotel nach eigenen Vorstellungen um, entstanden ist ein Bilderbuch-Wohnhaus, es ist so schön, dass es sich in gleich mehreren Büchern und etlichen Magazinen wiederfindet. Doch trotz der Hingabe, mit der David die Unterkunft betreibt; seine große Liebe ist Deutschland; auf ihn trifft zu, was man hier gerne über die Amerikaner mit deutschen Vorfahren sagt; dass sie nämlich deutscher seien als die Deutschen. David liebt die deutsche Sprache, er liebt das Land, er liebt die Menschen dort; er selbst hat in seiner Jugend sechs Monate nahe Stuttgart verbrachtet, er nennt die Zeit die beste seines Lebens. Seine Vorfahren stammen wie die meisten in Maeystown aus der Pfalz, in seinem Fall aus Hassloch. Und weil die Geschichte ihn nicht ruhen lässt, weil sie ihn treibt und fordert, sind Briefe aus der Vergangenheit sein größter Schatz. Geschrieben hatte sie einst sein Urgroßvater in einer Art Deutsch-Englisch-Stakkato Jahre nach der Ankunft in Amerika, versandt in die alte Heimat; darin schreibt er unter anderem: "So ging es hier gut, aber nicht immer, bis wir uns am 4ten Septr. 1842 verehlicht haben in Gottes Namen auf der Wassermühle. . . " 

 

 

Die Ur-Ur-Enkelin. Anita Muertz ist stolz auf ihre Vergangenheit; dabei allerdings weniger auf die Tatsache, dass Maesystowns Ortsgründer Jacob Maeys ihr Vorfahre ist; stolz ist sie darauf, in einem Ort wie diesem groß geworden zu sein. Bis heute findet sie in Maeystown die Ruhe, die sie braucht, die Siedlung gebe ihr den Frieden, den sie anderswo nicht findet, sagte sie. Sie selbst arbeitete bis zur ihrer Rente als Grundschullehrerin; heute führt sie den General Store;  sie verkauft dort Souvenirs, Dekorationsgegenstände und Antiquitäten. In Maeystown komme für sie alles zusammen, was ihr wichtig ist, sagte sie; Familie, Tradition, Heimat; und dann erzählt sie kurz von einer Zeit, in der sie glaubte, nicht die Kraft zu haben, sie überstehen zu können; sie verlor in kurzen Abständen ihre Eltern, ihr Mann wurde bei einem Unfall schwer verletzt, aber immer, "wenn ich mit dem Auto die Brücke zurück nach Maeystown fuhr, wusste ich, nichts ist stark genug, um mir auch noch das zu nehmen." Und noch einen Satz gibt sie mit auf den Weg: "This is home."

 

 

Der Champignonbauer.  Wie Anita hat auch John seine Jugend in Maeystown verbracht, und wie auch sie ist er Nachfahre der deutschen Siedler, die sich hier einst zum Leben niederließen. Seine Ur-Großmutter stammt aus Minden, sein Ur-Großvater aus der Pfalz, sein erstes deutsches Wort lernte er in seiner Jugend bei einer Reise nach Deutschland: Eiswürfel. Das lag daran, erzählt er, dass er in jedem Restaurant danach fragen musste, weil man sie anders als in Amerika kaum zu einem Getränk serviert bekommt. Während John bis zur Rente sein Geld mit dem Anbau von Champignons verdiente, stellten seine Vorfahren die Sheriffs und Pastoren im Ort, und sein Großvater, der Pastor, war es auch, der sich in den Zeiten nach dem ersten Weltkrieg tapfer gegen den Hass, der den Deutschen entgegenschlug, zur Wehr setzte, der seine Predigt trotz Verbot weiter auf Deutsch hielt. Die Geschichte dazu erzählt John in etwa so: "Und an einem dieser schwierigen Tage kam also der Sheriff zu ihm, legte ihm eine Pistole auf den Tisch und bat ihn, sich damit zu verteidigen. Mein Großvater aber lehnte ab, "nur über meine Leiche". Daraufhin postierten sich zu seinem Schutz die Männer Maeystowns auf dem Kirchturm, auf der Brücke, an den Ortsausgängen, um jeden in die Flucht zu schlagen, der dem Pastor zu nah kommen wollte." Und? "Nichts passierte. Die Angreifer, zumeist Iren und Engländer, kamen gar nicht so weit; sie betranken sich stattdessen auf dem Weg dorthin."